Arabella und das Mohnfeld

Arabella und das Mohnfeld

 

Bei Reisen nach Bremen, die aus vielerlei Gründen immer wieder notwendig werden, gehört es zu meinen festen Ritualen, jeweils die dortige Kunsthalle zu besuchen – und hier insbesondere im oberen Geschoß jene intimen Räume, wo sich die Bilder aus der Zeit des 19. Jahrhunderts befinden. Es kommt vor, daß ich mich bei diesen Besuchen nur einem einzigen Bild widme. Zum Beispiel ist das Mohnfeld von Van Gogh eines jener Werke, dem meine Aufmerksamkeit inzwischen schon über Jahre gilt. Ich marschiere die breite Treppe hinauf und steuere an Caspar David Friedrich, an Daubigny, an der wundervollen Camille von Monet und vielen anderen vorbei, auch an dem Cézanne – so als gäbe es sie nicht – direkt auf den Van Gogh zu, den ich dann wie einen alten Bekannten begrüße. Wenn es möglich wäre, würde ich ihn umarmen und küssen. Ich kann mich nicht sattsehen an den leuchtenden Farben, die mich dann jeweils in die weite Provence-Landschaft entführen. Und manchmal kommt mir jener Tag in Erinnerung, an dem meine Frau und ich in St. Remy hinter der Heilanstalt an dem Ort standen, wo einst der legendäre Maler gesessen hatte, als er das Bild malte.

Es war auch heute fast alles noch so, wie damals. Die gelbe Mauer an der linken Seite, die die Heilanstalt mit dem prächtigen Garten, in der sich der kranke Maler aufhalten mußte, begrenzte. Das sandsteinfarbene Gehöft und die weiten, grünen Felder mit dem blühenden Mohn unter dem hellen Himmel der Provence.
Wir parkten unser Auto an dem warmen, sonnigen Frühsommertag neben Bäumen an einem Weg, der in das Tal hinunterführte und holten unsere Decke, die wir auf der Wiese mit den Kirschbäumen ausbreiteten. Meine Frau schleppte die Tasche mit Käse, Wein und Baguette heran. Unser Picknick konnte beginnen. „Sieh mal, die Kirschen sind schon reif“, sagte sie. Es waren kleine, halbhohe Bäume, die uns die Früchte ganz leicht erreichen ließen. “So süß können Kirschen nur hier sein“, schwärmte sie. Es duftete nach Thymian und Hunderte von Grillen machten ihr Zierp Zierp. Während meine Frau glücklich über die Wiese schlenderte, hier mal nach einer Kirsche haschte, dort sich eine einsame Mohnblume ansah, hatte ich meinen Zeichenblock geholt und war zu jenem Platz gegangen, wo der große Maler einst gestanden hatte. Die Gemeinde St. Remy hatte der Touristen wegen ein Schild dort aufgestellt. Es zeigte eine Fotografie des Bildes aus der Bremer Kunsthalle.

Ich stellte mich daneben und begann zu skizzieren. Die Welt um mich versank. Stille kehrte ein. Der Filzstift kratzte in flinken, kleinen Strichen über das Papier. Prüfend huschten meine Augen immer wieder über das Blatt. Die Landschaft, die ich vor mir sah, formte sich mehr und mehr auf dem weißen Papier. War es Glück, was ich empfand? Es mußte Glück sein. Ja, so mußte Glück sich fühlen. Ich schrak zusammen.

Jemand hatte mir auf den Rücken geklopft. Sanft nur, aber doch deutlich genug, um mich aus meinem Traum – war es einer? – zu holen. Ich drehte mich um. Grinsend und freudestrahlend sah er mich an, mein Kunst-Freund aus alten Tagen. „Ich habe Dich schon eine ganze Weile beobachtet, mehr als zehn Minuten. Es war ein Genuß, Dich so zu sehen“, sagte er, „so konzentriert und vertieft ein Bild zu betrachten. – Es ist ein schönes Bild, nicht wahr? Es vermittelt so viel.“ Er hielt inne. „Aber was? Denn es stellt doch nur eine fast beliebige Landschaft dar, eine schöne, ja, aber es gibt viele Landschaften, die ebenso ausdrucksstark sind“, fuhr er fort. Endlich kam ich zu mir und fand in die reale Welt zurück. Es war die Kunsthalle, in der wir standen, oben vor dem Van Gogh-Bild. Ich schwieg immer noch. Nein, ärgerlich war ich nicht. „Wollen wir im „Kuckuck“ etwas trinken?“ fragte ich schließlich – mehr aus Verlegenheit. Vielleicht hatte er Neues über sein „Konzept“ zu berichten. Zwar interessierte es mich nicht sonderlich, aber ich hatte bis zu meinem nächsten Geschäfts-Termin noch etwas Zeit. Er war einverstanden und wir gingen hinunter in den Keller und betraten das kleine Café.

„Es muß eine besondere Energie von solchen Bildern ausgehen“, sagte er unterwegs. „Warum sonst wollen Hunderttausende diese Arbeiten in Ausstellungen immer wieder sehen, Menschen aller Art, Alt und Jung, Arm und Reich, Gelb, Schwarz und Weiß.“ „Ach, ich weiß nicht“, antwortete ich, „vielleicht ist es nur das Aufsehen, was um sie gemacht wird“. Er schüttelte den Kopf. „Es muß mehr sein.“ Wir bestellten uns beide ein Kännchen Kaffee. Er nahm dazu ein Stück Apfelkuchen. Während wir auf die Getränke und den Kuchen warteten, zog er einen Briefumschlag aus seiner Aktenmappe und öffnete ihn.

„Hier“, sagte er, „auch ein Bild, ein Foto“. Wollte er mich verhöhnen? Dann erkannte ich die Frau auf der bunten Postkarte. Es war Arabella Kiesbauer aus dem Fernsehen. Ihre großen, kugelrunden Augen. Ich lächelte. Was hatte dieses Foto mit dem Mohnfeld von Van Gogh zu tun? Belustigt sah ich auf ihn und wieder auf das Foto. „Richtig sexy“, lächelte er. „Sie hat es mir auf meinen Brief mit dem Poetry-Text, den ich aus einem Interview von ihr gemacht habe, geschickt. Nur diese Karte. Mehr nicht“. Der Kaffee und der Kuchen kamen. Wir begannen zu essen. „Wirst Du Dich bedanken?“ Empört blickte er auf. Diese Frage an ihn war ein Fauxpas. Ich merkte es sofort. Er war beleidigt. „Nichts verstehst Du!“ murmelte er leise vor sich hin, „von Kunst, meine ich“. Schweigend aß er den Kuchen zu Ende. Dann verabschiedete er sich mit einem erfundenen Vorwand so überraschend, wie er gekommen war. Lange grübelte ich noch über Arabella, meinen Freund und seine Kunst nach. Aber immer wieder auch über – das Mohnfeld! Dann mußte ich gehen. Meine Geschäftspartner warteten schon.

©brunopolik

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