Archiv der Kategorie: Horst Werders Poetry

Sprengstoff fegen

Sprengstoff fegen – und ein fast vergessenes Vorwort von Ralf Burnicki und einem Beispiel

 

 

»Texte – Sprache, anarchisch außerhalb sprachlicher Logik aus Vorgefundenem – Vorzufindendem gefügt. Kein Sichtbarmachen des Unsichtbaren, sondern ein Sichtbarmachen des Sichtbaren. Alles bloß hinstellend, nichts folgernd und erklärend, weil alles offen liegt«, dies schreibt Horst Werder über seine Texte. Und was mir als Leser hier so »offen liegt«, ist einen weiteren Anriß wert.
Als mir die Texte Werders in die Hände fielen, war ich verblüfft, überrascht und allmählich immer neugieriger. Hier lag etwas Neuartiges vor, etwas, das sich nicht auf den ersten Blick erschließt, eine Poetry, die gängige Formen verläßt und in kein Interpretationsmuster paßt. Und je mehr ich las, desto gieriger wurde ich, mir ihr Rätsel zu erschließen, und ich gebe zu, ich habe es bis vor kurzem noch nicht aufgegeben. Genau dies war – mein Fehler. Dabei lag die Erkenntnis zum Greifen nahe, daß es bei Werders Poetry gar nicht darum geht, einen (fertigen) Inhalt zu verstehen, sondern geradezu um eine Neuorientierung des Blicks. Ich habe verschiedene Werder-Texte bei Lesungen und auch im Bielefelder Literaturtelefon vorgetragen – und jedesmal, wenn ich las, wurde – welch ein Effekt – für mich ein anderer Text daraus. Ich verstand also zunehmend, daß gerade dies der Sinn der Texte sein könnte: etwas Individuelles daraus zu machen, durch neue Lesarten eigene Zusammenhänge zu stiften.
Heute nehme ich mir die Freiheit heraus, die mir Werder mit seinen Texten gibt. Und ich werde die Texte wieder lesen, weil sie in mir die Begeisterung für literarische Freiheit auslösen. Ich mache mir die Offenheit des Textes zu eigen, führe mir vor Augen, was ich will, daß es mir vor Augen liegt. Werders Texte protestieren gegen einfache Konsumhaltung, sie sind sogar unbequem, indem sie sprachspielerisch eine Kreativität der LeserInnen hervorholen, ja verlangen, und das ist angesichts der Tatsache, daß ein solcher experimenteller Ansatz der heutigen Dichtung nahezu vollständig fehlt, eine erfrischende Frechheit. Durch die textimmanente Aufforderung zu experimentellem Denken ist Werders ‘explosive’ Poetry tatsächlich eine sprachkünstlerische Erschütterung, zumindest im Gehege einer -abseits des Underground – bundesweit eher bravgehaltenen Poesie. Denk Dir deinen Teil, liebe Leserin, lieber Leser. Denk was draus, die Welt liegt offen vor Dir, das Spiel spielst Du selbst. Dies sagt mir Werders Poetry. Und insofern bin ich bis heute und hoffentlich noch viele Male mit diesen Texten nicht fertig.
Ralf Burnicki

 

4/8-Takt

 

voll Leidenschaft war
stumm erotisch eng und in
Vergessenheit stumm

…. geraten
erotisch eng geraten
Vergessenheit stumm

war stumm in und er
nachts auf der Straße eng voll
Leidenschaft ….

lange Zeit bevor
sie Argentino Tango
sie tanzen stumm mit

erobern langen
anmutigen Tanzfläche
Schritten Sony die

anmutigen Schritten
mit langen bevor sie die
Tanzfläche Straße

erobern auf der
sie nachts eng heranfegt Schnee
tanzen der erste

Tango doch Sony
Argentino hinterrücks
lange Zeit stumm von

eng der Musik eng
umschlungen 4/8-Takt
schweben sie im sich

wiegen die Augen
Paare mit geschlossenen
über das Parkett

über Parkett stumm
die Paare schweben eng mit
geschlossenen stumm

Augen umschlungen
wiegen eng auf der Straße
heranfegt sie nachts
sich eng doch der erste Schnee
hinterrücks von Musik im

der 4/8-Takt
sich im 4/8-Takt der
Musik sie wiegen
– sich

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Das im Jahre 2000 in der Edition Blackbox in kleinster Auflage erschienene Heft „Sprengstoff fegen“ ist nur noch antiquarisch lieferbar (auch Amazon) oder kostenlos auf Anfrage bei mir via E-Mail – brunopolik@gmx.net – als PDF-Datei.
Ein viertel Jahrhundert gibt es inzwischen diese Texte schon, und sie sind immer noch aktuell und im CyberSpace existent, dem virtuellen Raum unserer Zeit sowie der Zukunft. Dort warten sie, ja worauf warten sie, natürlich auf ihre Zeit, die kommen wird. Und sie wird kommen. So ist Kunst. Sie erfordert Ausdauer und Geduld, oft über Jahrhunderte bis sie sich realisiert.